Religionsforschung und Religionspolitik sollten nach Ansicht der Bremer Religionswissenschaftlerin Prof. Dr. Gritt Klinkhammer Laiinnen und Laien stärker in den Blick nehmen. Der Fokus auf anerkannte Religionsgemeinschaften und ihren Beitrag zum Gemeinwohl sei „selbstredend wohlfahrtsstaatlich verständlich und politisch unterstützenswert“, aber zunehmend problematisch, sagte sie bei der Eröffnungsfeier des Forschungskollegs „Regionale Regulierung religiöser Pluralität im Vergleich“ (RePliV) am Abend des 8. Juli 2021. Es zeige sich, so Klinkhammer, „dass solche Bekenntnisse, die starke Gemeinschaften ausbilden, eher konservativ-fundamentalisierende, wenig demokratische Kräfte ausbilden“. Ihre Thesen können Sie hier in einer PDF-Datei ausführlich im Original nachlesen. Die Lebenswirklichkeit „religiöser Pluralitäten“ werde durch Religionsverbände nicht immer abgebildet, erklärte auch Sigrid Beer, religionspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im NRW-Landtag. Sie forderte eine beständige kritische Reflexion über Religion. „Die Pluralität der Gesellschaft wird oft festgestellt, aber es wird zu wenig getan, um sie aktiv zu gestalten.“ So müsse etwa die Vielfalt des Islams stärker wahrgenommen werden. Wandlungsbereitschaft sei auch bei den Kirchen und ihren Verbänden erforderlich, etwa mit Blick auf das kirchliche Arbeitsrecht. „Wenn man Pluralität gewährleisten will, dann muss man sie auch aushalten – das ist nicht immer einfach“, sagte Beer. Der Rechtsstaat habe einen Rahmen zu gewährleisten, etwa mit Blick auf die Rechte von Minderheiten, die Ablehnung von Gewalt, die Meinungsfreiheit und die Gleichbehandlung von Mann und Frau. Wissenschaftliche Studien sollten Grundlagen für die Debatten liefern. Ergebnisse wie die des Forschungskollegs seien ein wertvoller Beitrag auch für die Politik. Dr. Tagrid Yousef, Integrationsbeauftragte der Stadt Krefeld, betonte ebenfalls die Bedeutung des Blicks auf Individuen für das Verstehen religiöser Vielfalt. „Es sind Menschen, die interagieren, nicht religiöse Systeme.“ In der gemeinsamen Arena würden die Versatzstücke neuer und alter Überzeugungen immer wieder neu verhandelt. Die Vielfalt mache es leicht, Grenzen verschwimmen zu lassen. So entstünden „multiple Perspektiven“ und „hybride Identitäten“. Die religiöse Vielfalt sei „Herausforderung und Chance zugleich“. An Orten der Vielfalt entstehe tagtäglich Neues. Die Herausforderung bestehe deswegen darin, „Optionen zu managen“. Der Wissenschaft kommt Yousef zufolge eine unverzichtbare Rolle bei der Gestaltung der religiösen Vielfalt zu. Ihre Aufgabe sei es, genau hinzuschauen. Sie übersetze religiöse Muster in Kategorien, die für die Gesellschaft verständlich seien. Nachdrücklich sprach sich Yousef für mehr Verzahnung zwischen Wissenschaft und Praxis aus, etwa mit Blick auf Schulen, Gesundheit und Pflege. „Es gibt kein Projekt, das wir in Krefeld umsetzen, das nicht wissenschaftlich begleitet wird.“ Auch Tagrid Yousefs Beitrag finden Sie hier als PDF-Dabei. Klinkhammer, selbst in der Politikberatung aktiv, gab zu bedenken, dass sich Religionsforscherinnen und -forscher durch die Zusammenarbeit mit Politik und Religionsgemeinschaften in einen „machtdurchzogenen Raum“ begeben. Der Austausch mit Praktikerinnen und Praktikern sei notwendig, könne aber zu blinden Flecken führen. „Ich brauche auch Distanz“, betonte Klinkhammer in der Podiumsdiskussion, die an ihren Vortrag und die Kommentare von Beer und Yousef anknüpfte und von Christina-Maria Purkert, Redakteurin beim Westdeutschen Rundfunk, moderiert wurde. Beer betonte die Bedeutung von Grundlagenforschung, die auch „nicht erwartbare und nicht erwünschte“ Antworten liefern könne. „Es braucht eine klare Rollenverteilung zwischen Wissenschaft und Politik.“ Zu Beginn der Abendveranstaltung hatten der Leitende Ministerialrat Thorsten Menne vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft, Prof. Dr. Axel Schölmerich, Rektor der Ruhr-Universität Bochum und Prof. Dr. Johannes Wessels, Rektor der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Grußworte gesprochen. Sie hoben die Bedeutung des Themas „Religiöse Vielfalt“ hervor, würdigten die Erfolge des Vorgängerprojekts RePliR und sagten dem Projekt RePliV ihre Unterstützung zu. Auf dem Programm der Eröffnungsveranstaltung standen außerdem ein Rückblick auf die erste Projektphase RePliR sowie die Projektpräsentationen der gegenwärtigen Promovierenden. Begrüßt wurden die Gäste durch die beiden Sprecher des Kollegs, Prof. Dr. Volkhard Krech und Prof. Dr. Ulrich Willems, sowie die Sprecherinnen der Promovierenden, Anna Kira Hippert und Mareike Ritter. (ha., 12. Juli 2021)
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