Religiöse Pluralität in der deutsch-afghanischen Diaspora.
Die Bedeutung von (religiöser) Identität und Zugehörigkeitskonstruktionen im Zusammenhang mit Diskriminierungs- und Fluchterfahrungen
Promotionsprojekt von Aria Anwar
Abstract: On the basis of biographical interviews with Afghan diaspora members of different religious affiliations, the project examines when and how religious affiliation is addressed and what significance it has in different social contexts for the positioning of the self and others. Among other things, it looks for indications of connections between collectively handed-down experiences of discrimination and the current perception and experience of discrimination. The focus is on reports and stories about experiences in education and the labor market. To this end, women from different religious communities and socializations are interviewed about their life stories. Many of the women have their own history of flight and report on discrimination and disadvantages in their country of origin and in Germany. The project explores how women from religious minorities process and narrate their experiences in comparison to members of the majority. The analysis focuses on the effects of collectively handed-down experiences of discrimination on the construction of identities and self-positioning.
Im August 2021 fällt die Hauptstadt Kabul und wird nicht zum ersten Mal von den Taliban eingenommen. Das ist nur ein Grund dafür, dass sich afghanische Fluchtgeschichten nun seit mehr als vierzig Jahren fortschreiben (vgl. Crespo, 2021). Deutschland stellt ein besonderes Zielland für Afghan*innen dar, nicht zuletzt wegen seiner mittlerweile 300.000 Personen umfassenden Community. Seit den 1980er-Jahren schaffen Afghan*innen facettenreiche religiöse und kulturelle Landschaften in Deutschland, dies nicht selten auch in Form von Migrant*innen-Organisationen mit wichtigen unterstützenden Funktionen für Geflüchtete. Den Subjekten, die sich innerhalb dieses religiösen und kulturellen Feldes bewegen, gilt die Aufmerksamkeit dieses Projekts.
Die deutsch-afghanische Diaspora Allein in Deutschland leben laut Angaben aus der Community etwa 6.000 afghanische Sikhs und Hindus in gut organisierten Gemeinschaften, Vereins- und Gemeindestrukturen (vgl. Zentralrat afghanischer Hindus & Sikhs e. V., 2021). Andere Quellen berichten sogar von 7.000 bis 10.000 afghanischen Hindus und Sikhs in Deutschland (vgl. REMID, 2009). Unter Einwanderer*innen hinduistischen Glaubens sind Afghan*innen (vgl. BAMF, 2020a) eine der größten Gruppen. Die schiitischen Muslim*innen aus Afghanistan machen rund 20 Prozent der afghanischstämmigen Deutschen aus (vgl. BAMF, 2020b). 6 Prozent der zwischen 2013 und 2016 eingewanderten Afghan*innen sind christlichen Glaubens (vgl. BAMF, 2020b); im Jahr 2020 lag der Anteil der Christ*innen unter den afghanischen Asylantragsteller*innen bei etwa 2 Prozent (vgl. BAMF, 2020a). Der Anteil nicht-muslimischer Afghanen*innen unter den zwischen 2013 und 2016 Eingewanderten liegt insgesamt bei 20,1 Prozent (vgl. BAMF, 2020b, S. 5). Rund die Hälfte davon gibt an, an keiner Konfession anzugehören (vgl. ebd.). Religiöse Zugehörigkeiten und Positionierungen im Kontext von Flucht und Diskriminierung Afghan*innen jeglicher religiöser und spiritueller Orientierung leben in modernen Diasporagemeinschaften in einem Spannungsverhältnis zwischen gesellschaftlich-integrativen Anforderungen sowie der Wahrung und Weitergabe ihrer religiös-spirituellen Werte. Religiöse Symbolik kann dabei integraler Bestandteil ihrer qualitativen beziehungsweise personalen, religiös-spirituellen Identität sein. Das stark religiös geprägte Herkunftsland legt die Vermutung nahe, dass (religiöse) Identität und andere Zugehörigkeitskonstruktionen von Afghan*innen aufgrund von herkunftsspezifischen Bedingungen wie der Erfahrung von langanhaltenden kriegerischen Auseinandersetzungen, Vertreibung und Entwurzelung in besonderer Weise konstruiert und mit Bedeutung versehen werden. Dabei stellt sich auch die Frage nach Figurationen stabiler und fluider, situativer Identitäten und Zugehörigkeitskonstruktionen. Solche Themen lenken den Blick auch auf Positionierungen von Afghan*innen als Teil der deutschen Gesellschaft. Diese Positionierungen stehen unter dem Einfluss herkunftsspezifischer, kollektiver Erfahrungen, die in der Betrachtung (religiöser) Identitäten der afghanischen Diaspora berücksichtigt werden. Bei der Erforschung (religiöser) Identitäten, Zugehörigkeitskonstruktionen und gesellschaftlichen Positionierungen von Afghan*innen werden religiöse und nicht-religiöse Subjekte und Gemeinschaften vergleichend untersucht. Deutschlandweit werden qualitative Daten erhoben, die Hinweise auf biografisch generierte Identitäten geben und diese in Zusammenhang mit der Herkunftsregion Afghanistan, der Zielregion Deutschland sowie den zahlreichen (transnationalen) Organisationen setzen und interpretieren (vgl. Rosenthal, 2016, S. 16). Wird Afghanistan zum Thema, wird es nicht selten in den Kontext von Geschlechterungleichheit, Krieg und dem Scheitern eines äußerst heterogenen Staates gesetzt. Besonders die Diskussion über Frauenrechte sowie die damit verbundene Verbildlichung und Stereotypisierung der „afghanischen Frauen“ in den Medien (Mitra, 2019; Wanke, 2013; Gundlach, 2021; Möller, 2021; Nachtigall/Bewernitz, 2011) haben zur Folge, dass afghanische Frauen und Mädchen mit Unmündigkeit, Vulnerabilität und instabiler Identität assoziiert werden. Nur selten wurde wissenschaftliche und mediale Aufmerksamkeit auf emanzipatorische Bemühungen von afghanischen Frauen gelenkt (Khan, 2014, Cornell, 2002). |
Herkunftsbezogene Zuschreibung der Religion Obwohl Afghanistan mittlerweile als islamische Republik zu 99 Prozent von Muslim*innen bevölkert wird, beherbergte es vor den 1990er-Jahren einige weitere Religionsgruppen, die innerhalb der zentralasiatischen Region eine lange Tradition pflegen. Der hohe Stellenwert der islamischen Religion für den neuen afghanischen Staat und seine Gesellschaft bedingt, dass Afghan*innen in der Diaspora häufig muslimisch „gelesen“ werden. Beispielsweise berichten seit 9/11 auch nicht-muslimische Afghan*innen, Opfer von antimuslimischem Rassismus zu werden, wenn sie ihre afghanische Herkunft preisgeben (vgl. Hutter, 2012, S. 18) oder religiöse Symbole Bestandteile ihrer Kleidung sind. Religiöse Symbolik (wie der Turban eines Sikhs) kann hierbei integraler Bestandteil qualitativer beziehungsweise personaler und religiös-spiritueller Identitäten sein. Werden beispielsweise Kopftücher oder Bärte gesellschaftlich eher skeptisch beäugt (weil sie beispielsweise als fremd und beängstigend wahrgenommen werden oder in gewissen gesellschaftlichen Bereichen gar verboten sind), führt diese aversive Skepsis zu einer moralischen Verletzung des betroffenen Individuums (vgl. Straub, 2016, S. 143). Alltägliche Stereotypisierung, Diskriminierungen, Herabsetzungen und ähnliche verletzende Erfahrungen nehmen den Betroffenen „die Luft zum Atmen“ (Straub, 2016, S. 144) und können internalisiert werden, den Selbstwert einer Person verringern und anhaltende psychosoziale Effekte nach sich ziehen (vgl. ebd.). Auch dieses Spannungsverhältnis von gesellschaftlich zugeschriebener Religiosität und personaler Identität soll im Rahmen dieser Untersuchung beachtet werden. Anhand der afghanischstämmigen Bevölkerungsgruppe kann aufgezeigt werden, welche Auswirkungen gesellschaftliche Zuschreibungen und Stereotypisierungen im Kontext von forcierter Migration auf unterschiedliche kulturelle, religiöse und personale Identitäten nehmen können. Das „Entdecken“ des religiösen Feldes afghanischstämmiger Deutscher stellt ein übergeordnetes Interesse dieses Projektes dar. Der Fokus der Untersuchung liegt auf den Figurationen personaler, religiöser und kultureller Identitäten und Zugehörigkeitskonstruktionen in der afghanischstämmigen Diaspora in Deutschland. Es ergeben sich folgende zentrale Fragen für dieses Forschungsvorhaben:
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Quellen und Literatur:
- Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2020a): Das Bundesamt in Zahlen 2020. Asyl, Migration und Integration. Berlin.
- Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2020b): BAMF-Kurzanalyse. 2020 (2), Berlin.
- Cornell, Drucilla (2002): For RAWA. In: Journal of Women in Culture and Society, Jg. 28 (1), S. 433-435.
- Crespo, Nora Miralles (2021): Women and Peacebuilding from the Diaspora and Exile. Barcelona: International Catalan Institute for Peace.
- Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (2018): „Wo kommen Sie eigentlich ursprünglich her?“ Diskriminierungserfahrungen und phänotypische Differenz in Deutschland. Berlin.
- Gundlach, Ines (2021): Nameless Victims? Constructing Afghan Women in German Print Media post 9/11. London: Kings College. Dissertationsschrift.
- Hutter, Manfred (2012): Asiatische Religionen in Deutschland. Pluralismus in „fremder“ Umgebung. Dokumente über die Ausstellung „LebensWelten“ an der Universität Bonn, 15.06.2012, online aufgerufen am 20.10.2021 unter https://docplayer.org/47378652-Zusammengestellt-von-manfred-hutter.html
- Khan, Shahnaz (2014): The two faces of Afghan women: Oppressed and exotic. In: Women`s Studies International Forum 44, S. 101-109.
- Koopmans, Ruud/ Veit, Susanne, Yemane, Ruta (2018): Ethnische Hierarchien in der Bewerberauswahl: Ein Feldexperiment zu den Ursachen von Arbeitsmarktdiskriminierung. In: WZB Discussion-Paper, No. SP VI 2018-104. Berlin.
- Mitra, Saumava (2019): ´Picturing afghan women` for Western audiences: The Afghan perspective. In: SAGE-Journalism, 2019, Jg. 21 (6), S. 800-820.
- Møller, Silke (2021): Do Afghan women need saving? A Critical Discourse Analysis of Laura Bush`s representation of the women in Afghanistan. Malmö-University.
- Nachtigall, Andrea/ Bewernitz, Torsten (2011): Von ‚Frauen und Kindern’ zu ‚Embedded Feminism’. Frauen(rechte) als Legitimation für militärische Intervention in den Medien – Variationen einer Legitimationsfigur zwischen Kosovo-,Afghanistan- und Irakkrieg. In: Gayer, Corinna/ Engels, Bettina et al.: Geschlechterverhältnisse, Frieden und Konflikt. Baden-Baden: Nomos.
- Peucker, Mario (2010): Diskriminierung aufgrund der islamischen Religionszugehörigkeit im Kontext Arbeitsleben. Erkenntnisse, Fragen und Handlungsempfehlungen. Erkenntnisse der sozialwissenschaftlichen Forschung und Handlungsempfehlungen. Berlin: Im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes.
- Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst e.V. (2021): Hinduismus. Online aufgerufen am 20.10.2021 unter https://www.remid.de/info_zahlen/hinduismus/
- Rosenthal, Gabriele (2016): Die Erforschung kollektiver und individueller Dynamik – Zu einer historisch und prozess-soziologisch orientierten interpretativen Sozialforschung. In: Forum Qualitative Sozialforschung, Jg. 17 (2), Art. 13.
- Schuller, Larissa (2018): Diskriminierung geflüchteter Frauen beim Zugang zum Arbeitsmarkt: Eine intersektionale Betrachtung. Masterarbeit: Karl-Franzens-Universität Graz.
- Straub, Jürgen (2016): Religiöser Glaube und säkulare Lebensformen im Dialog. Personale Identität und Kontingenz in pluralistischen Gesellschaften. Gießen: Psychosozial-Verlag.
- Tucci, Ingrid/ Eisnecker, Philipp/ Brücker, Herbert (2014): Wie zufrieden sind Migranten mit ihrem Leben? In: Diskriminierungserfahrungen und soziale Integration. DIW-Wochenbericht, Nr. 43, S. 1152- 1158.
- Wanke, Christina (2013): Die Darstellung Afghanistans in den Hauptnachrichtensendungen. Eine Struktur- und Inhaltsanalyse. Wiesbaden: Springer VS.
- Zentralrat afghanischer Hindus & Sikhs e.V. (2021): Über uns. Online aufgerufen am 20.10.2021 unter http://www.zahs.eu/home/index.htm