Religiöse Pluralität und Identitätsgestaltung von jungen Türkeistämmigen.
Fremdsein erleben Menschen nicht erst im Kontakt mit „exotischen“ Kulturen. Auch innerhalb „einer“ Kultur machen Subjekte Erfahrungen mit Eigenem und Fremden, die interaktiv und kontextgebunden ausgehandelt werden (vgl. Utler 2014). Kulturen sind binnendifferenziert (Wimmer 1996, S.403), sie bestehen aus multiplen Gruppen und sozialen Milieus, deren Akteure eigene spezifische Praktiken, Werthaltungen, Denk- und Handlungsmuster teilen, die Außenstehenden im milieuübergreifenden Kontakt zunächst fremd und „auf die Selbstverständlichkeiten des eigenen Milieus beschränkt“ bleiben (Nohl 2001, S.267).
Ein menschliches Subjekt gehört also nie bloß einer Kultur an, es ist stets Teil vieler (Sub-)Kulturen (Utler, 2014, S.45). Dennoch werden Einzelne beispielsweise durch Nationalstaaten oder Religionen zu einem vermeintlichen Kollektiv subsumiert. Ihnen wird analog zur personalen Identität eine gemeinsame Identität unterstellt (vgl. kritisch zum normierenden Typus der kollektiven Identität: Straub 1998, S.96 ff.) und damit unterliegen Kollektive ebenso spezifischen „Subjektpositionen“. So stellt das „muslimische Subjekt“ beispielsweise lediglich eine mögliche Subjektposition unter vielen anderen dar (Tezcan 2012, S.170).
Die größte Einwanderungsgruppe in Deutschland bilden Menschen aus der Türkei. Die homogene Wahrnehmung als „Migrant*innen“ bzw. „Türk*innen“ und „Muslime“ bzw. "Musliminnen" untergräbt die tatsächlich vorhandene kulturelle, ethnische, (minderheiten-) sprachliche und religiöse Binnendifferenzierung, Mehrfachzugehörigkeiten und milieubedingte Spezifika. Um einer solchen Vereinheitlichung entgegenzuwirken und mögliche, in der Migrationsforschung nahezu unberücksichtigte Konfliktpotentiale in den Blick zu nehmen, untersucht diese Dissertation aus kulturpsychologischer Perspektive Jugendliche und junge Erwachsene und ihr Selbstverständnis als Teil verschiedener religiöser, ethnischer Gruppierungen im deutschen Migrationskontext.
Jugend und Migration stellt für die Adoleszenten und ihre Elterngeneration eine strukturell "doppelte Transformationsanforderung" dar (King/Koller 2006, S.9 ), die in unterschiedlichen Familien und Milieus anders verarbeitet wird. In beiden Fällen handelt es sich also um Ablösüngsprozesse und Neuorientierungen, wie diese gelingen hängt aber maßgeblich auch mit den Ressourcen und Möglichkeiten der jeweiligen familiären Hintergründe zusammen. Kern dieser Untersuchung bilden ausgehend von diesen Überlegungen die psychosozialen Beziehungen im alevitisch-sunnitischen Kontext, denen eine gemeinsame (Verletzungs-) Geschichte (vgl. Straub 2014a) innewohnt. Da Sunnit*innen und Alevit*innen, ganz gleich ob dem Islam zugeordnet oder als eine eigenständige religiöse Gruppe verstanden, unterschiedliche religiöse und kulturelle Praktiken ausüben, ihr Status innerhalb der Türkei nicht gleichberechtigt ist und die Alevit*innen einer Reihe von Massakern ausgesetzt waren, die zur Geheimhaltungsstrategie (Takiye) ihrer Religion geführt haben (vgl. u. a. Sökefeld 2008; Kaya 2009, Taşcı 2006; Dressler 2002 u.2013; Gorzewski 2010; Aksünger 2013) ist danach zu fragen, wie sich die historischen Verletzungen in Form gegenseitiger Vorurteile, Stereotypen und Stigmatisierung auf die Intergruppenbeziehungen und Identitätskonstruktionen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen auswirken. Auch die Binnendifferenzierungen innerhalb dieser Religionsgemeinschaften sind zu berücksichtigen - nicht alle Menschen sind gleich religiös, oder binden religiöse Praktiken in ihren Alltag ein. Es herrschen also säkulare, kulturelle, religiöse wie nicht-religiöse Selbstverständnisse synchron nebeneinander bzw. können solche Orientierungen sich im Laufe einer Biographie auch wandeln. Es geht dementsprechend auch um die Bedeutung von Mehrfachzugehörigkeiten im Migrationskontext und das Aushandeln von Zugehörigkeitsfragen, die mit unterschiedlichen Grenzziehungsprozessen und sozialen Differenzierungen einhergehen. Menschen handeln zudem nicht stets gruppenkonform, sie können z.B. in der Phase der Jugend oder aber durch kreatives oder imaginiertes Handeln soziale Ordnungen in Frage stellen (vgl. Erikson 1970; Straub 1999; Boesch 1992). Ein weiteres Anliegen ist es also genau hinzuschauen und den Jugendlichen und jungen Erwachsenen religiöse Orientierungen nicht unreflektiert zuzuschreiben (vgl. kritisch hierzu die Studie von Julia Franz 2017), sondern danach zu fragen, inwiefern ihre religiösen Zugehörigkeiten für sie selbst überhaupt bedeutsam sind oder durch Fremdzuschreibungen von außen bedeutsam gemacht werden. Denn was religiös sein bedeutet wird vor dem Hintergrund einer säkularen, pluralisierten und individualisierten Gesellschaft und in Relation zu anderen Religionsgemeinschaften gedeutet und kollektiv ausgehandelt.
Im Sinne einer Etablierten-Außenseiter-Figuration (vgl. Scotson/Elias 1990) wird der Frage nachgegangen, inwiefern sich das historisch bedingte Machtgefälle zwischen den Gruppen im Kontext der Migration reproduziert oder transformiert und wie die jungen Erwachsenen mit bestimmten Stigmatisierungen umgehen (vgl. Goffman 1974). Die Relevanz meiner Untersuchung leitet sich auch aus der angespannten politischen Lage in der Türkei ab, deren Ausmaß in Deutschland nicht mehr zu übersehen ist. Aufgrund transnationaler Wechselbeziehungen zwischen Herkunftsland und Aufnahmeland nehmen politische Spannungen der Türkei auch Einfluss auf die in Deutschland lebenden Türkeistämmigen, sodass alte Konfliktlinien wieder an Bedeutung gewinnen können. Da Jugendliche und junge Erwachsene im Migrationskontext sozialisiert sind, gleichzeitig aber auch mit den Herkunftskulturen ihrer Eltern (mehr oder weniger) vertraut sind, ist ihre Perspektive für meine zentralen Forschungsfragen also von besonderer Bedeutung. In der Entwicklungsphase der Adoleszenz, die Erikson als "psychosoziales Moratorium" bezeichnet, müssen sich Jugendliche und junge Erwachsene mit den Fragen " Wer bin ich und wer möchte ich sein?" auseinandersetzen. Diese Auseinandersetzung mit der eigenen Ich- und Gruppenidentität ist immerzu ineinander verschränkt, die soziale Identität ist von der personalen Identität nicht zu trennen (vgl. Erikson 1973; vgl. Elias/Scotson 1990 ).
Meine zentrale Forschungsfrage lautet daher:
Wie gestalten sich die psychosozialen Beziehungen zwischen sunnitischen und alevitischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen in ihrem Alltag? In welchen situativen, alltäglichen und außeralltäglichen Kontexten werden ihre (Mehrfach-)Zugehörigkeiten überhaupt bedeutsam für sie?
Und im Besonderen:
- Inwiefern orientieren sich sunnitische und alevitische Jugendliche und junge Erwachsene in einer vergleichsweise säkularen, pluralistischen deutschen Gesellschaft an religiösen Werten und Normen? Welche Bedeutung haben diese Orientierungen für ihre jeweiligen Identitätskonstruktionen, ihre Interaktionen mit anderen und ihre Lebenspraxis im Alltag?
- Welche Bedeutung haben ethnische, politische und religiöse Grenzziehungen im sunnitisch-alevitischen Beziehungskontext und wie wirken diese auf ihre Identitätskonstruktionen, ihre Interaktionen und ihre Lebenspraxis im Alltag?
- Welche Bedeutung haben Erinnerungen und Erzählungen der gewaltvollen Geschichte im alevitisch-sunnitischen Kontext für die Beziehungen in der Gegenwart? Inwiefern unterscheiden sich die Jugendlichen und jungen Erwachsenen hier von ihrer Elterngeneration?
- Welche (historisch bedingten) Vorurteile und Stereotypen bestehen nach wie vor auf beiden Seiten und wie gehen sie mit diesen im Vergleich zur Elterngeneration um?
Methodisch habe ich sowohl Gruppendiskussionen (vgl. Kuhn/Koschel 2011) als auch narrative Interviews (Schütze 1983; Nohl 2009) erhoben. Die Interviews und Gruppendiskussionen werden mit der wissenssoziologisch fundierten relationalen Hermeneutik, die die Dokumentarische Methode nach Bohnsack u.a. erweitert und modifiziert hat, ausgewertet (vgl. Straub 1999; 2010). Geht es der dokumentarischen Methode eher um kollektiv geteilte Wissensbestände und konjunktive Erfahrungsräume (vgl. etwa Bohnsack 2014; Bohnsack et al. 2007), so nimmt die relationale Hermeneutik das Wechselverhältnis zwischen Subjekt und Kultur stärker in den Blick. Für die Erhebung wurden zunächst Einzelpersonen durch Gatekeeper (z.B. über Sozialarbeiter*innen, Studienberater*innen u.a.) angefragt oder durch Selbstauswahl oder durch Bekannte und Organisationen (z.B. alevitische Hochschulgruppe) angesprochen. Im nächsten Schritt wurden sie wiederum darum gebeten ihre Freunde/Bekannte zu einem Gespräch einzuladen (mit dem Ziel eine 'Realgruppe' zu interviewen). In der Selbstauswahl dieser so genannten (Real-)Gruppen dokumentieren sich bereits einige ihrer Orientierungen, die in meine Analysen mit einbezogen werden können. Ich möchte mit meiner Dissertation dazu beitragen, der deutschen Öffentlichkeit sowie den Institutionen, die kulturelle und religiöse Vielfalt regulieren sollen, ein differenzierteres Bild von Türkeistämmigen und ihren Mehrfachzugehörigkeiten zugänglich zu machen und dafür sensibilisieren die unterschiedlichen historischen und soziokulturellen Perspektiven von unterschiedlichen Einwanderungsgruppen sowie mögliche Konfliktpotentiale und Verletzungen ernst zu nehmen.
Literatur
Aksünger, Handan (2013). Jenseits des Schweigegebots. Alevitische Migrantenselbstorganisationen
Bohnsack, Ralf/ Nentwig-Gesemann, Iris/ Nohl, Arnd-Michael (Hrsg.) (2007). Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung (2., erweiterte und aktualisierte Auflage). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Bohnsack, R. (2014). Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methode (9. überarbeitete Auflage). Opladen [u.a]: Verlag Barbara Budrich.
Boesch, Ernst.1992. Ernst Boesch. In: Wehner, Ernst G. (Hrsg.), Psychologie in Selbstdarstellungen (Band 3), 67-107. Bern, Toronto: Huber.
Dreßler, Markus (2002). Die alevitische Religion – Traditionslinien und Neubestimmungen. (Abhandlungen zur Kunde des Morgenlandes LIII,4). Würzburg: Ergon.
Dressler, Markus (2013). Writing Religion: The Making of Turkish Alevi Islam. Oxford/New York: Oxford University Press.
Erikson, Erik H. (1973). Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Elias, Norbert / Scotson, John L. (1990) [1965]. Etablierte und Außenseiter. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Franz, Julia (2017). Ablehnung des Nichtauthentischen. In: Stella Müller, Jens Zimmermann (Hrsg.), Milieu – Revisited. Forschungsstrategien der qualitativen Milieuanalyse. S.53-77. Wiesbaden: VS Springer.
Goffman, Erving (1974). Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt: Suhrkamp.
Gorzewski, Andreas (2010): Das Alevitentum in seinen divergierenden Verhältnisbestimmungen zum Islam, Bonner Islamstudien, Bd. 17. Berlin: EB-Verlag Dr. Brandt.
Kaya, Asiye (2009). Mutter-Tochter-Beziehungen in der Migration. Biographische Erfahrungen im alevitischen und sunnitischen Kontext. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
King, Vera/Koller, Hans-Christoph (Hrsg.) (2006). Adoleszenz – Migration – Bildung. Wiesbaden: VS Verlag.
Kuhn, Thomas/Koschel, Kay-Volker (2011). Gruppendiskussionen. Ein Praxis-Handbuch. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Nohl, Arnd-Michael (2001). Migration und Differenzerfahrung: junge Einheimische und Migranten im rekonstruktiven Milieuvergleich. Leske und Budrich: Opladen.
Nohl, Arnd-Michael (2009). Interview und dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis (3.Aufl.). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Schütze, Fritz (1983). Biographieforschung und narratives Interview. In: Neue Praxis 3, S. 283–293.
Sökefeld, Martin (2008a). Struggling for recognition: The Alevi movement in Germany an transnational space. Berghahn Books.
Straub (1998). Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs in: Aleida Ass- mann/Heidrun Friese (Hrsg.), Identitäten, S.73-83. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag.
Straub, Jürgen (1999). Handlung, Interpretation, Kritik. Grundzüge einer textwissenschaftlichen Handlungs- und Kulturpsychologie. Berlin, New York: de Gruyter.
Straub, Jürgen (2010). Das Verstehen kultureller Unterschiede. Relationale Hermeneutik und komparative Analyse in der Kulturpsychologie. In: Cappai, Gabriele, Shingo Shimada & Jürgen Straub (Hrsg..), Interpretative Sozialforschung und Kulturanalyse, S. 39-99. Bielefeld: Transcript.
Straub, Jürgen (2014). Gewaltgeschichten in Verletzungsverhältnissen. Gegenwärtige Vergangenheit, histo- risches Bewusstsein und interkulturelle Bildung in Migrationsgesellschaften. Ein Essay in vier Fragmenten. In: Psychosozial 37, S.75-94.
Taşcı, Hülya (2006). Identität und Ethnizität in der Bundesrepublik Deutschland am Beispiel der zweiten Generation der Aleviten aus der Republik Türkei. Berlin: LIT-Verlag.
Tezcan, Levent (2012). Das muslimische Subjekt. Verfangen im Dialog der Deutschen Islam Konferenz. Konstanz University Press.
Utler, Astrid (2014). „Aber der Tongchun is echt komisch“ – Differenzerfahrungen im Migrationskontext. Bochum: Westdeutscher Universitätsverlag.
Wimmer, Andreas (1996). Kultur. Zur Reformulierung eines sozialanhtropologischen Grundbegriffs. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Jg.48, Heft 3 S.401-425.