Verwaltete Tradition(en)? Islamischer Religionsunterricht als lokale Schnittstelle multipler Differenzierung
Promotionsprojekt von Johannes Eberl
Abstract: In Germany, religious education is the only school subject guaranteed by constitutional law and is taught in cooperation with religious communities. In the last decade, more and more federal states have introduced Islamic religious education in public schools. My project explores how the introduction of Islamic religious education in schools navigates between local cultures and broader institutional structures, such as academic disciplines, teacher professionalization, curriculum development and scientific evaluations. The theological, pedagogical and administrative formations of Islamic traditions lead to an abstraction, formalization and unification of religious knowledge. This deculturalized "school Islam" must then be re-contextualized within the classroom, where it encounters the confessional and ethnic plurality of Muslim pupils. What does this institutionally guided process of explication mean for religious certainties? How does a propositionally mediated understanding of one's faith change the mimetic and narrative modes of being religious? From the perspective of sociological differentiation theory, I am interested in the transformation of religious traditions through the impact of political, legal, scientific and educational systems. Methodologically, I will primarily conduct secondary analyses and evaluate them using the heuristic framework of a theory of multiple differentiation.
An den islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen richten sich viele Erwartungen. Er soll muslimischen Kindern und Jugendlichen dabei helfen, ein mündiges und kritisch-reflektiertes Verhältnis zum eigenen Glauben zu entwickeln. Liberale Akteure erhoffen sich einen aufgeklärteren Islam, die Politik Integrationswirkungen und islamische Verbände gesell-schaftliche Anerkennung sowie eine Ergänzung zur Katechese in Familie und Moschee. Gleichzeitig wird seine Einführung und Etablierung durch akademische Disziplinen wie islamische Theologie und Religionspädagogik, die Professionalisierung von Lehrpersonal, die Entwicklung von Lehrplänen und Unterrichtsmaterialien sowie wissenschaftliche Evaluationen begleitet. Mein Projekt interessiert sich aus einer spezifischen differenzierungstheoretischen Hinsicht für Übersetzungsdynamiken innerhalb dieser Gemengelage.
Ziel ist es zum einen, die Einbettung der Praxis islamischen Religionsunterrichts zwischen lokalen Kulturen und ausgedehnteren Makrostrukturen im Horizont einer modernen Großstadt zu rekonstruieren. Dabei müssen Wirkung und Grad des Einflusses externer Horizonte auf die Praxis des Unterrichtens hermeneutisch aus den Erzählungen und Alltagssemantiken praxisnaher Akteure erschlossen werden. Wie gelingt es etwa Religionslehrenden zwischen den islamisch-konfessionellen und regional-partikularen Prägungen der Schüler*innen, eigenen religiösen Sozialisationsbiografien, pädagogischen Anforderungen eines staatlich gerahmten Schul-unterrichts sowie lokalen Moscheegemeinden und Familien übersetzend zu vermitteln? Neben der Rekonstruktion der Einbettung lokaler Unterrichtspraxen in differenzierungstheoretisch bestimmte Makrolagen geht die Arbeit der Frage nach, wie es im Zuge der Institutionalisierung islamischen Religionsunterrichts durch Prozesse der Abstraktion, Explikation und Generalisierung zu einem Wandel religiösen Wissens kommt. Die in muslimischen Lebensformen traditionell verankerten Techniken des Memorierens und Rezitierens heiliger Schriften und Verse sowie die mimetische Einführung in religiöse Praktiken des Betens und Fastens wird unter säkularen und pluralisierten Bedingungen zunehmend durch Formen religiösen Wissens ergänzungsbedürftig, die die Artikulations- und Reflexionskompetenz von Gläubigen stärken. Wesentliches Ziel des islamischen Religionsunterrichts ist es, zu einer solchen kritischen Reflexion des eigenen Glaubens zu befähigen. Doch was bedeutet dieser institutionell gerahmte Explikationsprozess für implizite Glaubens-gewissheiten? Verändert ein vor allem propositional vermitteltes Verständnis über den eigenen Glauben auch die Art und Weise des praktischen Umgangs mit rituellen und narrativen Modi religiöser Vergewisserung? Wie verhalten sich didaktische Methoden und Materialien der religiösen Wissens- und Kompetenzvermittlung an Schulen zu traditionellen Formen religiöser Einweisung? Der wissenschaftlich-theologische sowie pädagogisch-didaktische Zugriff auf islamische Traditionen, in Medien wie curricularen Lehrplänen, Professionen und Unterrichtsmaterialien und -methoden, führt der Tendenz nach zu einer Dekulturierung „des Islams“. Ein solcher über staatliche Institutionen explizierter und verwalteter Islam steht der Verankerung religiöser Gewissheiten in gemeinschaftlich-kultischen Praktiken partikularer Traditionslinien gegenüber. |
Kompensiert der an staatlichen Schulen durchgeführte Islamunterricht den auch in muslimischen Communities zu beobachtenden Bedeutungsverlust der Lernorte Familie und Moschee oder verstärkt er die unvermittelte Entzweiung zwischen kulturell-religiöser Herkunft und den abstrakten Rollenformaten säkularer Institutionen sowie den Mehrfachzugehörigkeiten moderner Lebensformen?
Die für die Untersuchung in Anschlag genommene Theorie multipler Differenzierung betrachtet ihren Gegenstand hinsichtlich der Übersetzung zwischen performativ-praktischen und abstrakt-generalisierten Sprachen des Sozialen. Sie unterstellt Muster der Grenz- und Ordnungsbildung, die aus den Perspektiven praxisbefangener Teilnehmer*innen nicht unmittelbar ersichtlich sind. Allerdings lassen sich durch sequenzanalytische Methoden der qualitativen Sozialforschung aus lebensweltlichen Berichten Spuren der konkreten Wirkung makrostruktureller Imperative (Politik, Recht, Wissenschaft etc.), formaler Organisationen (Schule, Stadtverwaltung, Verbände etc.) sowie kultureller Milieus (Familien, Gemeinden, Peer-Groups etc.) auf die Alltagspraxis des Unterrichtens tiefenhermeneutisch erschließen. Die Gestalt religiöser Lebensformen entspricht heute nicht mehr der Kompaktheit konfessioneller Milieus (klassisch etwa als enges Netz aus Familie, lokaler Gemeinde und Amtskirche). Weil moderne Lebensformen sich in biografischer (diachron) und alltäglicher (synchroner) Hinsicht dynamisieren (Stichwort Mehrfachzugehörigkeit) und nicht mehr einfach aus objektiven sozialen Lagen hervorgehen, muss das theoretische und empirische Augenmerk auf diejenigen Schnittstellen moderner Vergesellschaftung gelegt werden, an denen sich religiöse Lebensformen als Folge von lokalen Übersetzungsdynamiken bilden. Der islamische Religionsunterricht an öffentlichen Schulen ist eine solche Schnittstelle, an der es im Zuge der vereinheitlichenden und kategorisierenden Adressierung islamischer Traditionsbestände durch politisch-rechtliche, wissenschaftliche und pädagogische Formatierungen rückwirkend auch zu einem Wandel religiöser Lebensformen kommt. Das Abstraktionsniveau der Theorie multipler Differenzierung erlaubt es zum einen, den konkreten Fall als eine lokale Variante der Verstrickung religiöser Traditionen in die komplexen Übersetzungsverhältnisse einer weltgesellschaftlichen Moderne zu rekonstruieren. Zum anderen wird vorgeführt, wie eine gesellschaftstheoretisch informierte qualitative Sozialforschung über die Beschreibung lebensweltlicher Miniaturen hinaus auch makrostrukturelle Konstellationen methodisch kontrolliert aus dem empirischen Material herausarbeiten kann. |